Kapitel 3: Madeira oder wenn harte Männer weinen (Director’s Cut)

Für meinen ersten Abstecher nach Madeira möchte ich einen Text wählen, den ich in einer gekürzten Version bereits in der Herbstausgabe 2004 des Weinmagazines „Divino“ veröffentlicht habe. Da Platzerwägungen an dieser Stelle keine Rolle spielen müssen, hier der Text in voller Schönheit, sprich Länge – sozusagen als „Director’s Cut“.

Vielleicht mag der eine oder andere ja mangelnde Aktualität monieren, aber beim Thema Madeira mit Weinen, die 200 Jahre und mehr reifen können, erscheinen mir einige wenige Jahre von untergeordneter Bedeutung. Ich habe diesen Artikel auch damals verfasst, um meine Faszination für Madeira auszudrücken und bisher wenig gefunden, was dem besser nahe gekommen wäre. Aber urteilen Sie selbst:

Leider gibt es nur noch wenige Orte auf unserer immer hektischer werdenden Welt, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Die Kellerei von Artur de Barros e Sousa ist einer davon. „Come in, come in. You like to taste some wine?“ hüpft uns ein gar freundliches Männlein so um die 60 entgegen, als wir ein typisches Madeirafass mit Willkommensgrüßen in 5 Sprachen passiert haben und in das Halbdunkel eines Durchgangs zu einem Verkostungsraum abgetaucht sind. Mit seiner an chinesischen Mao-Look erinnernden grauen Arbeitsjacke, grauen, nur noch spärlich sprießenden Haaren und etwa einem Meter sechzig Körpergröße, strahlt er eine erstaunliche Energie und Lebensfreude aus. An den Seiten des Durchgangs sind Lodge-Pipes aufgereiht, Fässer in denen Madeira über viele Jahre heranreifen muss, um sich dereinst zu strahlender Schönheit aufzuschwingen. Darüber Batterien von gefüllten Flaschen in Dreierreihen. Alles strahlt hier einen rustikalen, zeitlosen Charme aus. Wir sehen Senhor Barros zu einem Regal mit Verkostungsflaschen eilen und einige davon herausnehmen.

Wir, eine aus vier Mitgliedern bestehende „Delegation“ des Münchner Weinkreises, sind nach Madeira gekommen, um uns intensiv eines unserer Lieblingsthemen zu widmen. Einer bernsteinfarben, total durchoxidierten und bis zu 200 Jahren und mehr im Fass eingedampften Flüssigkeit, dem Vintage-Madeira. Sie riecht nach Salz, Meer, Nüssen, Bourbon-Whiskey und manchmal auch nach Jod und entfacht am Gaumen mit ihren typischen, komplexen Rancio-Noten, die von der langen Fasslagerung stammen, einen mit nichts zu vergleichenden Druck, der einem den Gaumen geradezu zerfetzt. Vintage-Madeira steht an der Spitze der Qualitätspyramide auf der Insel. Er reift für mindestens 20 Jahre in den Lodge-Pipes im sogenannten Canteiro-Verfahren heran. Namensgeber sind die Holzbalken (Canteiros), auf denen die Lodge-Pipes in südlich ausgerichteten Dachräumen bei Temperaturen, die im Sommer 50 Grad und mehr erreichen können, aufgestapelt sind. Vintage-Madeira hat mit der üblichen Massenware, aber auch mit den anderen Qualitäten „Finest“ (3 Jahre gereift), „Reserve“ (5 Jahre), „Special Reserve“ (10 Jahre) und Extra Reserve (15 Jahre) nichts zu tun und stellt in der Spitze eines der größten Erlebnisse dar, die die Weinwelt bieten kann. Anscheinend können unsere Leidenschaft aber nur die wenigsten teilen, denn zumindest für das Haus Barbeito können wir konstatieren, dass unser Weinkreis der größte Importeur in Deutschland ist. Vintage-Madeira ist nicht trendy und scheint hauptsächlich mit einer Ingredienz zum Kochen oder mit netten alten Damen in Verbindung gebracht zu werden, die sich einmal die Woche zu einem rüstigen Kaffeekränzchen versammeln.

Die Fairness gebietet es allerdings zu gestehen, dass sich „Kaffeekränzchen-Madeira“ zu einem geflügelten Wort entwickelt, als wir im traditionsschwangeren Verkostungsraum der Madeira Wine Company sitzen. In der Madeira Wine Company haben sich 1913 die Häuser Blandy, Leacock, Cossart-Gordon und Rutherford & Miles zusammengeschlossen, deren Wurzeln tief in der Geschichte Madeiras verankert sind, die Anfang des 14. Jahrhunderts mit der Neubesiedelung durch Portugal beginnt. Berühmt wurde die Insel dann durch einen über lange Zeit rätselhaften Umstand und dem, unter heutigen Gesichtspunkten – gelinde gesagt – merkwürdig anmutenden Ansatz damit umzugehen. Der Wein, der seit Beginn des 18. Jahrhunderts über den Atlantik in seine Zielhäfen geschippert wurde, schmeckte dort einfach wesentlich besser als auf Madeira. Da der Grund hierfür nicht offensichtlich war, wurde guter Madeira sicherheitshalber erst einmal in die Neue Welt und wieder zurück transportiert, bevor er an seine – zumeist englische – Kundschaft ausgeliefert wurde. Es dauerte dann bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, bis man dem Geheimnis auf die Spur kam. Bei hohen Temperaturen und ständigem Schlingern, Rollen und Gieren in den Bäuchen der Handelsschiffe oxidiert der zum Transport aufgespritete Wein vollständig durch. Bedingungen, die dann auf Madeira im Canteiro-Verfahren abgebildet wurden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts haben sich bereits 70 britische Madeira-Häuer auf der Insel etabliert; 1776 wird die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit Madeira begossen.

Die Tische und Stühle im Verkostungsraum der Madeira Wine Company sind aus den Kopfteilen von Weinfässern gezimmert. Auf unserem Tisch funzelt eine einsame Kerze, und an den Wänden sind Regale eingelassen, in denen sich eine kostbare Madeira-Flasche an die andere drängt. Trotz des schönen Frühlingstages draußen herrscht ein besseres Halbdunkel und es ist kühl. An den Nachbartischen sitzen einige wenige Mitstreiter. So richtig voll wird es nur, wenn in regelmäßigen Abständen die Landpartie eines der vielen riesigen Kreuzfahrtschiffe eintrifft, die das ganze Jahr über im Hafen von Funchal anlegen und aufgrund ihrer Größe die Kaianlagen wie Spielzeug aussehen lassen. Die gediegene Stille wird dann durch ein Crescendo an Hintergrundgemurmel aus Sprachen mannigfaltiger Provenienz durchbrochen. Die Mitarbeiter wuseln zwischen den Tischen herum, verteilen Kostproben, und die Beschaulichkeit nimmt ein abruptes Ende. Da das Thema Madeira normalerweise aber in Rekordzeit abgehandelt wird, ist das Phänomen nach einem kurzen Fortissimo genau so schnell wieder vorbei wie es gekommen ist und es kehrt wieder Stille ein.

Wir werfen einen Blick auf die Liste mit den zur Verkostung bereitstehenden Weinen. Das System ist einfach. Es besteht kein Kaufzwang, jedes Glas hat seinen festen Preis und alles, was auf der Liste steht, kann auch verkostet werden. In selbstverachtender Kompromisslosigkeit beschließen wir zwei oder drei Nachmittage zu opfern und alle 35 Weine zu verkosten. Wir werden uns also nicht noch einmal in die kühle Luft der sofort hinter der Steilküste bis in eine Höhe von etwa 2.000 m aufragenden und meistens von dichten Regenwolken verhangenen Berge zurückziehen, nicht noch einmal die Blumenpracht der Insel bewundern, im eiskalten Atlantikwasser des Naturschwimmbeckens von Porto Moniz schwimmen, uns weiche Knie am Kliff von Cabo Girao holen oder einfach nur ein einfaches aber exzellentes Mittagessen in Fajo dos Padres, einer Plantage auf einem schmalen Küstenstreifen mit dreihundert Meter hohen Steilwänden im Rücken, genießen. Das Ergebnis am Ende ist dann ernüchternd. Viel Mittelmaß und nur ein außergewöhnlich guter Boal 1920 der Marke Blandy’s für 250 Euro die Flasche.

„Der junge Mann und das Fass“ kommt mir spontan in den Sinn, als ich Senhor Teixeira stolz vor einer an die hundert Jahre alten Lodge-Pipe stehen sehe, die er gerade erst erworben hat. Im Fasskeller riecht es warm nach Rancio, Vanille und Alkohol und wir fühlen uns daheim. Er führt Klage, dass die meisten alten Fässer, in denen der Madeira am allerbesten reift, kontinuierlich von der Insel verschwinden und im unersättlichen Schlund gieriger Brennereien im gar garstigen Schottland landen. Inzwischen hat sich ein allgegenwärtiger Mangel an gebrauchten Fässern breit gemacht und neue will im Gegensatz zur übrigen, ganze Wälder verschlingenden, barriquebessenen Weinwelt keiner haben. Manche Whisky-Destillen zahlen, neben dem Fass an sich, sogar schon für eine Erstbefüllung auf Madaira.

Senhor Teixeira ist Kellermeister bei Justino Henriques, dem mit inzwischen etwa 50 % Marktanteil größten Madeira-Produzenten auf der Insel. Er berichtet mit einem traurigen Gesichtsausdruck, dass es keine großen zusammenhängenden Rebflächen auf Madeira gibt. Der größte Weingarten hat gerade einmal eine Ausdehnung von 7 Hektar. Eine Firma wie Justinos muss deshalb auf über tausend Traubenlieferanten zurückgreifen, von denen manche nur eine Rebfläche bewirtschaften, die aus einem besseren Vorgarten besteht. Dies erklärt unsere Enttäuschung als wir Estreito de Camaro dos Lobos besucht haben. Estreito ist neben Porto Moniz das Hauptanbaugebiet auf der Insel. Keine spektakulären Steillagen, keine gepflegten Rebparzellen, nichts was auf einen qualitativ hochwertigen Weinanbau schließen würde. Nur kleine chaotische Weininseln zwischen Häusern, Vorgärten und Bananenstauden. Überhaupt gibt es hier auf der Insel mehr Bananen als Wein. Warum gibt es eigentlich keinen berühmten Bananenbrand auf Madeira? Im Garten vor uns steht ein Baukran.

Wir erfahren weiterhin, dass sich, wenn überhaupt, nur wenige Traubenproduzenten für Ertragsreduzierung interessieren und dass der Most, in unheiliger Allianz mit einem frühen Lesezeitpunkt zur Vermeidung von Fäule, erschreckend niedrige Zuckergradationen von 10 bis 13 Brix aufweist. Wie auch bei den Grundweinen zur Champagnerherstellung fällt einem dann sofort die Hornhaut von den Füßen, sollte man – bar jeglicher Vernunft – die Verwegenheit aufbringen, einen solchen Wein zu verkosten.

Das Fasslager von Senhor Barros e Sousa ist in einem Seitengebäude untergebracht, das sicher schon viele Familienjubiläen erlebt hat. Spinnweben hängen von den Decken und durch kleine Fenster einfallende, gebündelte Sonnenstrahlen zeichnen Vierecke auf den Boden und beleuchten Myriaden von Staubteilchen, die uns in der Nase kitzeln, beim Vorübergehen Pirouetten drehen, Strudel bilden und zum Takt unserer Schritte tanzen. Wir sehen vom Alter gezeichnete Fässer, deren Inhalt noch vom Vater und auch vom Großvater erzeugt wurde, und die Familiengeschichte von Senhor Barros e Sousa zieht an uns vorüber. Während meine Augen über die Altersangaben streichen, die mit inzwischen verblasster Kreide auf den Fässern festgehalten wurden, denke ich mir, dass man eigentlich für die Herstellung von Madeira nicht ganz richtig im Kopf sein darf. Guter Madeira braucht Reife und wenn er so richtig gut ist, hat man das Trübsal seiner armseligen Existenz schon lange zurückgelassen und hoffentlich einen erleuchteten Zustand weit jenseits allen Neides und aller Missgunst erreicht. Alles für die Nachwelt, nichts für Gegenwart.

„Nicht ganz richtig im Kopf“ denkt auch einer unserer Mitstreiter, als er von Senhor Barros e Sousa erfährt, dass er selbst überhaupt keinen Wein trinkt und ist fassungslos. Das einzige Laster von Senhor Barros ist die eine oder andere zerknautschte Zigarette, die er aus seiner Mao-Jacke zieht, mit einem altertümlich anmutenden Feuerzeug anheizt, zwei, drei tiefe Züge nimmt, die Glut abdrückt und den restlichen Glimmstengel wieder in seiner Jacke verschwinden läßt, nur um ihn wenig später wieder herauszuholen. Danach riecht es nach verbranntem Kamelmist.

Überhaupt scheinen die Einheimischen nicht viel von dem Produkt zu halten, das ihre Insel berühmt gemacht hat, denn in den wenigsten Restaurants gibt es ein adäquates Angebot an Vintage-Madeira. Wahrscheinlich passt er nicht so recht zur einheimischen Küche mit ihren Gerichten aus Stockfisch, also getrocknetem und dann wieder gewässerten Kabeljau, Fleischspießen und Degenfisch. Hier handelt es sich um einen etwa zwei Meter langen, schlanken, schwarzen, nicht besonders appetitlich aussehenden Tiefseefisch, der in Tiefen von bis zu 2.000 Meter mit Schleppangeln gefangen wird. Leider wirkt sich der Druckunterschied beim Einholen in Sachen Konsistenz nicht wirklich förderlich aus und auf dem Teller verbleibt eine eher labberige Masse. Allenfalls beim Schwertfisch in Madeirasoße verläßt unser geliebtes Elixier den Kerker des kulinarischen Vergessens. Langsam scheint sich aber die Einstellung dazu zu ändern und auch den Behörden wird klar, welchen Schatz sie da eigentlich auf der Insel horten. Aufgrund der den Markt mit zunehmender Geschwindigkeit leer saugenden Nachfrage aus Osteuropa und Asien, gibt es inzwischen strenge Ausfuhrkontingente, die es unmöglich machen, größere Mengen an Vintage-Madeira in kurzer Zeit zu exportieren. Wer also den kalten Entzug vermeiden und ausreichend Stoff sein eigen nennen möchte, sollte dieses höchst lobenswerte Unterfangen zum einen starten, solange noch etwas vorhanden ist und zum anderen auch einige Monate veranschlagen, bis alles wohlbehalten eingetroffen und im Keller verstaut ist.

Im Innenhof des Anwesens von Senhor Barros e Sousa zwitschern die Vögel und das milde Licht des Frühlings wärmt unsere Haut. Er hat dort Rebstöcke aus aller Herren Länder gepflanzt, unter denen sich sogar ein vorwitziger Stock Grüner Veltliner aus der Wachau befindet. Senhor Barros e Sousa ist überzeugt, dass er mit Verdelho identisch ist und nachdem wir sehen, wie ampelographisch genau er die Unterschiede zwischen Blättern, Trieben und Trauben erklärt, sind wir erst einmal beeindruckt und glauben ihm das auch. Er rät wieder vorbeizuschauen wenn die Trauben reif sind und die Trauben dann mit einem Schluck des dazugehörigen Weins zu vergleichen. „But never come in August. In August I have closed“.

Madeira, der seinen Namen verdient, also nicht die Massenware mit einem maßgeblichen Anteil der Rebsorte Tinta Negra Mole, wird aus vier Leitsorten hergestellt, die gleichzeitig auch den Süßegrad der Weine wiedergeben. Am trockensten ist der Sercial, dann folgt in aufsteigender Süße Verdelho, Bual und Malvasia, der auch Malmsay genannt wird. Terrantez, der in der Süße zwischen Verdelho und Bual angesiedelt ist, gibt es leider kaum noch und vom zickigen, extrem schwer zu kultivierenden Bastardo ist nur noch eine Rebfläche vorhanden, die kleiner als ein halbes Fußballfeld ist. Allerdings verfügt Senhor Barros e Sousa über ein Fass dieser Rebsorte und wir hatten die Ehre einen sortenreinen Bastardo zu verkosten. Eine Ehre ist es wirklich, denn Senhor Barros e Sousa hat über 30 Jahre gebraucht, bis die 600-Liter-Pipe einigermaßen gefüllt war. Wir sind bewegt, als wir den Wein im Glas haben.

Noch viel bewegter sind wir, als wir mit Herrn Freitas nach einem Besuch auf seinem elterlichen Weingut mitten in den Hügeln von Funchal bei Barbeito an einem Tisch sitzen. Er ist ein schlanker Mann, so um die 35 Jahre, mit einem, wie mir nach Rückfrage bei der mitreisenden Dame glaubhaft versichert wird, ebenmäßigen, weichen, sehr hübschen Gesicht. Nach den üblichen Standardqualitäten serviert uns Herr Freitas als letztes drei Madeira aus dem 19. Jahrhundert. Er setzt kurz an, um den letzten Wein der Runde zu kommentieren. Da er aber weiß, wie intensiv wir uns mit dem Thema Madeira beschäftigen, bricht er abrupt ab, um uns nicht zu beeinflussen. Nachdem wir den Wein verkostet haben, wissen wir auch warum.

An diesem Tag hatten wir das seltene Glück uns kontinuierlich in der Stratosphäre der Weinwelt aufzuhalten. Eigentlich wähnten wir uns schon auf dem Gipfel, als wir Tags zuvor bei Henriques & Henriques von John Cossart empfangen wurden und die seltene Gelegenheit hatten, die sogenannten „Heavenly Four“ bzw. das „Heavenly Quartett“ nebeneinander zu verkosten. Hierbei handelt es sich um vier Madeiras, einem Sercial Reserva, zwei Buals (W.S. und Grand Old Reserva) sowie einem Malvasia Reserva, die schon so alt sind, dass nicht mehr festgestellt werden kann, wann sie eigentlich gekeltert wurden. Ein Teil stammt sicherlich aus der Zeit zwischen 1775 und 1800. Ein Besuch bei d’Oliveras belehrt uns dann, dass die vier Weine zwar mehr oder minder perfekt, aber nicht einzigartig sind. Als wir dort einen Moscatel Reserva 1900 verkosten, sind wir glücklich, und als wir uns schon fast zum Aufbruch rüsten und uns noch eine Flasche 1880 Terrantez Reserva erreicht, ist es wieder da. Dieses 100-Punkte-Gefühl, das sich wohlig im Bauch breit macht, sich von dort über den ganzen Körper ausbreitet und prickelnd Gänsehaut erzeugt. In meinem Kopf formt sich dann immer das Bild eines strahlend hellen Leuchtfeuers, das seine Botschaft „Perfekt, perfekt, perfekt – warum trinkst du noch irgendetwas anderes, wenn du mich trinken kannst“ in steter Regelmäßigkeit auf den Ozean hinaus blinkt und schon so mach einen Suchenden, der einsam, erschöpft und verzweifelt die unüberschaubaren Meere des Weines mit all seinen gefährlichen Untiefen durchstreifte, in den rettenden Hafen der Genüsse geleitet hat. Natürlich haben wir dann trotz aller guten Vorsätze nicht soviel Geld auszugeben eine Flasche für 435.- Euro gekauft.

In dieser Stimmung sitzen wir nun vor dem letzten Dreier-Flight bei Barbeito, sind bei einer Fassprobe (!) Malvasia 1875 bei ganz groß und haben einen überragenden Malvasia 1802 im Glas, der schon so lange in der Flasche eingesperrt ist, das er über eine halbe Stunde braucht um sich von seinem Gefängnis zu befreien, sich regt und streckt und sich von einem verhutzelten Gnom zu einer Gestalt voll außergewöhnlicher Anmut, Kraft und Liebreiz verwandelt. Als wir allerdings beim letzten Glas angelangt sind, wird schon beim Hineinriechen klar, dass hier etwas Außergewöhnliches, ja Einzigartiges im Gange ist. Der Wein fegt die beiden anderen – und auch alles andere zuvor – spielend vom Tisch. Nochmals eine andere Welt. Wie kann das sein? Kann so etwas überhaupt sein? Ich bin fassungslos. Wir verkosten den Wein, riechen immer und immer wieder und nehmen hie und da einen kleinen, vorsichtigen Schluck. Nach fast einer halben Stunde, in der kein Wort fällt und mehr religiöse Andacht herrscht, als ich in den meisten Kirchen erlebt habe, sehen wir uns an und haben Tränen in den Augen. Wenn der Ausdruck „Nirwana in a bottle“ jemals seine Daseinsberechtigung gehabt hat, dann hier. Noch mehr ergriffen sind wir allerdings, als wir erfahren, dass der Restbestand der beiden letzten Weine aus jeweils der Halbflasche besteht, die sich auf unserem Tisch befindet und nun dahingeschwunden ist. Selbst als wir am nächsten Tag im Flugzeug sitzen, fühlen wir uns immer noch ergriffen und glücklich, aber auch irgendwie traurig und leer. Ebenso, wie wenn man langsam begreift, dass man die allerletzten Höhen erklommen hat und einem bewusst wird, dass man diesen Zustand wohl nie wieder erreichen wird. Wir haben das letzte Einhorn erschossen.

P.S.  Bei diesem Wein handelt es sich um einen Malvasia 1830, einem der drei besten Madeira, die Senhor Freitas jemals in seinem Leben getrunken hat.

P.P.S.  Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es sich bei der verkosteten Halbflasche zwar um die letzte auf der Insel gehandelt hat, aber ab und an noch eine Flasche davon am Markt zu finden ist. Viel Spaß bei der Jagd!

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